Peter Masüger

Orts- und Flurnamen als "Sprachkonserven"

Planzi, Clavi, Zuzi. Künstlernamen einer neuen Boy-Group? Comic-Figuren à la Walt Disneys Tick, Trick und Track? Nein, sondern romanische Flur- und Hofnamen – mitten im deutschen Prättigau. Bis an die Grenze zur Verhunzung verkürzt aus Plan Sant Jan 'Ebene des Heiligen Johannes' (Fanas), Clavidiel 'kleine Scheune' und Zuzinjal 'unter dem Zeichen' (beide Schiers) [1]. Das neckische "Triumvirat" macht deutlich, dass das praktisch seit seinen Anfängen (um 15 v. Chr.) im Rückzug begriffene Bündnerromanisch [2] trotz gegenteiliger Meldungen [3] auch in seit Jahrhunderten verdeutschten Gebieten noch quicklebendig ist – zumindest in den Namen. 

Sollten dereinst – Dieus pertgiri! – auch die noch intakten Pfeiler der vierten Landessprache an Inn und Vorderrhein eingebrochen, die wohlklingende romanische Lautung vom Deutschen komplett zugeschüttet und endgültig verstummt sein – dank der Namen wird man auch nach diesem schlimmsten aller denkbaren Fälle noch immer über romanisch benannte Fluren wandeln können, ja bei gewissen deutschen Ortsnamen sogar eine alträtoromanische Besonderheit entdecken, die ihren romanischen Pendants fehlt.   

Das alles ist möglich, weil Namen, seien das Orts-, Flur-, Gewässer- oder auch Personennamen, zähe Gebilde sind, die, wie man sieht, auch gröbere Manipulationen überstehen. Trotz zuweilen nicht mehr klar erkennbarer Bedeutung, übersetzt, adaptiert oder umgedeutet, haften sie unverbrüchlich an den Örtlichkeiten, die sie benennen. Als Vor- und Familiennamen lebenslang auch an uns selber. 

 

Wörter sind Schall und Rauch

Ganz im Gegensatz zu den Wörtern, mit welchen sie einst gebildet wurden. Diese sind nicht nur einem Bedeutungswandel unterworfen (gemütlich – zu Goethes Zeiten verstanden als 'mit dem Gemüt', heute mit der Bedeutung 'behaglich' versehen), nicht selten verabschieden sie sich auch definitiv aus dem alltäglichen Sprachgebrauch. Lützel 'klein, schmächtig, ärmlich, gering', aber auch 'wenig' [4] ist so ein Wort, das man heute kaum mehr kennt. Im Familiennamen Lützelschwab 'kleiner Schwabe' oder im bernischen Ortsnamen Lützelflüh [5] indessen ist das kryptisch gewordene Wort noch erhalten.  

Ihrer "konservatorischen" Eigenschaft wegen hat man die Namen etwas salopp auch als "Friedhof der Wörter" [6] bezeichnet. Die etwas weniger morbide Charakterisierung als "Archiv der Sprache" [7] zielt auf eine weitere Befähigung, nämlich die, als (erstarrte) Zeugen einstiger Sprachverhältnisse fungieren zu können. Vornehmlich natürlich in Gegenden, an deren Namenlandschaft wie in Graubünden "mehrere Sprachschichten Anteil haben und wo sich Nebeneinander und Nacheinander dieser Sprachen in vielfältiger Weise im Namengut spiegeln" [8]. Der langen Rede kurzer Sinn: Nicht der Name ist, wie oft (und falsch) beschworen, "Schall und Rauch", es ist das Wort! [9]

 

Gegenseitige Beeinflussung

Ein Licht auf das Wechselspiel von Romanisch und Deutsch werfen sprachverschiedene Doppelbenennungen [10]. Von einigen solcher Doppel-Ortsnamen sind noch beide Teile geläufig und in wenigen Fällen sogar amtlich [11] (z. B. Disentis dt. Mustér  rom; Domat romEms dt.). Von anderen (beispielsweise Flims dt. /  Flem rom. oder Trun romTruns  dt.) kennt man vorwiegend den einen (amtlichen) Teil, weniger jedoch die zweite Form. Bei einer dritten Gruppe kann die nichtoffizielle Form, weil nicht mehr gebraucht und kaum mehr bekannt, als historisch gelten (Surcuolm rom.Neukirch dt. [12];  Bivio it. / Beiva rom./ Stalla dt.[13]).

 

Flims, Truns usw. offenbaren nun die bereits angetönte romanische Besonderheit in deutschen Namen. Sie zeigen nämlich ein auffälliges -s am Namensende, welches ihren romanischen Entsprechungen Flem oder Trun fehlt. Lange glaubte man, dieses seltsame -s signalisiere einen Plural (Mehrzahl) [14]. Dass dem nicht so ist, mindestens nicht immer, hat bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts der gewiefte Zürcher Romanist (und Rumantsch-Grischun-Schöpfer) Heinrich Schmid (gest. 1999) nachgewiesen. [15] Nicht für einen Plural ist das -s ein Zeichen, sondern für einen Nominativ (Wer-Fall) Singular (Einzahl).  

Das Merkmal leuchtet weit ins Mittelalter zurück, in eine Zeit, als beim männlichen Substantiv (Hauptwort) mittels Endungen zwischen Nominativ (mit -s) und Akkusativ (Wen-Fall, ohne -s) unterschieden wurde. Ein Prozedere, das Zweikasusflexion genannt wird. Noch vor dem Erlöschen derselben müssen diese Singular-Nominative ihre ursprüngliche Funktion verloren haben, jedoch beim alemannischen Bevölkerungsteil sowie bei den deutschsprachigen Kanzlisten als deutsches Ortsnamenzeichen heimisch geworden sein. So heimisch, dass die Schreiber – in Unkenntnis der Funktion Endungs-s – wohl auch den einen oder anderen romanischen Namen damit ausgestattet haben dürften.

 

Umgekehrt können aber auch deutsche Wortbildungselemente an romanische Namen "andocken", so dass man selbigen ihre "Romanität" mitunter gar nicht mehr ansieht. Auf den ersten Blick zweifelsfrei deutsche Benennungen können sich deshalb nach genauerer Prüfung unversehens als verkappte Bildungen aus dem Romanischen entpuppen. Dem im Dorf Praden situierten Flurnamen Glafadürli  –  scheinbar nicht zuletzt wegen seiner -li-Endung [16], eine walserische Bildung – liegt tatsächlich aber rätoromanisches clavau 'Scheune, Heustall' zugrunde. Zu einer erschlossenen Form *clavadüra abgeleitet, wurde es im Munde der walserischen Bevölkerung zur heutigen Form "verkleinert". [17]

 

Den verbreiteten Reflexen der alträtoromanischen Zweikasusflexion stehen in althochdeutscher Zeit (8.-11. Jh.) mit der Zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung [18] und der bis etwa ins 12. Jh. wirksamen Erstbetonung (Akzentrückzug) [19] zwei wichtige sprachliche Neuerungen des Alemannischen gegenüber. Auf Gebiet des heutigen Graubünden allerdings praktisch ohne Wirkung auf das vordeutsche Namengut. Mit zwei Ausnahmen: Chur [20] und Cazis [21]. Obwohl tief im frühmittelalterlichen rätoromanischen Raum und "jenseits einer direkten Sprachgrenzberührung" [22] situiert, offenbaren die beiden Namen in ihrer eingedeutschten Form trotzdem Merkmale der hochdeutschen Lautverschiebung [23]. Eine "Fernwirkung", die der Wichtigkeit und Bedeutung der beiden Orte geschuldet ist.[24] So war und ist die bündnerische Hauptstadt Bischofssitz, Verkehrsknotenpunkt mit Zugang zu den Pässen und war bereits Hauptstadt der Raetia prima. Cazis seinerseits, nahe Thusis gelegen, beherbergt das um 700 gegründete Kloster gleichen Namens. Ältestes Frauenkloster und wohl älteste klösterliche Stiftung im Bistum Chur überhaupt.[25]

 

Doppelt gemoppelt oder neu interpretiert

Farbiger als diese morphologischen (formalen) Indizien einer langanhaltenden alemannisch-rätoromanischen Begegnung präsentieren sich auf der Bedeutungsebene die für diesen Zeitraum typischen Übersetzungsnamen. Die Übertragung von der einen in die andere Sprache gestaltete sich in dieser Phase dank Kenntnissen der fremden Sprache ziemlich problemlos. So hiess die ehemalige politische Gemeinde Obersaxen [26], deutsche Sprachinsel im romanischen Umland der Surselva und dort Sursaissa genannt, noch 765 und 956 in gelehrter lateinischer Schreibung Supersaxa, bereits 1376-88 aber, als der Ort deutsch geworden war, in lautlicher Nähe zur Mundart uf dem obren Sachs

 

Mit allmählich verebbender Zweisprachigkeit und schliesslich vollzogenem Sprachwechsel verloren die deutschen Sprecher ihre "Romanisch-Kompetenz". Sinnentleert gewordene Namen wurden als nicht mehr verstandene Wortetiketten ins eigene System integriert bzw. mit der eigenen Benennung verknüpft. Resultat waren tautologische (zweimal das Gleiche ausdrückende) Doppelbenennungen. Tumabüel ist eine solche. Man findet sie in Praden, aber auch andernorts. Das Bildungsmuster ist simpel: Nicht mehr verstandenes alträtoromanisches tumba für 'Hügel' wurde kurzerhand mit deutschem Büel zu Tumabüel 'Hügel-Hügel' verknüpft [27]. Auf die gleiche Weise dürfte der Name Güdaspitz im Nachbardorf Tschiertschen gebildet worden sein. Der ursprüngliche Name der über markanten Felsspitze oberhalb des Dorfes, wohl romanisch *piz agüd 'scharfe Spitze', wurde in Anlehnung an das deutsche Wort Spitze zunächst zu Spitzagüda (so urkundlich 1586) und schliesslich, weil romanisch agüd 'scharf, spitzig' nicht mehr verstanden wurde, durch Beifügen eines mundartlichen Spitz für 'Spitze' zur heutigen Form.[28]

 

Weitergetrieben wird dieses Vorgehen, wenn kryptisch gewordene Namenrelikte nicht einfach mit der eigenen Benennung verknüpft, sondern neu interpretiert werden. Das Wort, das dem nicht mehr verstandenen Namen zugrunde liegt, wird auf ein zwar ähnlich lautendes, jedoch eine völlig andere Bedeutung tragendes Wort zurückgeführt. Volksetymologie nennt man solche "Deutungen". Sie halten sich lange und zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Resistenz wissenschaftlichen Einwänden gegenüber aus. So schuf eine solche volksetymologische Umdeutung aus romanischem Valrein, 1274 in Valle Reni, wohl in Anlehnung an deutsches Wald die heutige Bezeichnung Rheinwald, urkundlich 1336 ze dem Rinwalde.[29]

 

Solche passend gemachte Erklärungen kommen nicht nur naiv und volkstümlich daher, sondern gelegentlich auch halbgelehrt oder pseudowissenschaftlich (trotzdem nicht richtiger). Aufgrund einer urkundlichen Form Circens will im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Deutung den Namen  Tschiertschen (zu lat. circinus 'Kreis') [30] aus Circ und Enz zusammengesetzt wissen, was 'Steinbachdorf' oder 'Dorf am Steinbach' bedeute.[31] Auf einem ähnlichen  etymologischen Holzweg wandelt auch der bereits zitierte (vgl. oben N14) Pfarrherr und Chronist Nicolin Sererhard (1698-1755), wenn er 1742 [32] den (bis heute nicht restlos geklärten) Namen der Gemeinde Seewis, der er während 38 Jahren als Seelsorger diente, auf einen "ein Stündlein hinter Seewis gegen Malans" gelegenen See zurückführt, und als wäre es damit noch nicht genug, die dergestalt kreierte 'See-Wiese' mit einem pseudolateinischen Lacupratum noch ein wenig "verwissenschaftlicht".[33]

 

Namengebung von zwei Seiten her

Schon der Terminus "freie Namenpaare" [34] für Surcuolm/Neukirch oder Bivio/Beiva/Stalla insinuiert, dass die sprachverschiedenen Teile der beiden Namen völlig unabhängig voneinander und von unterschiedlichen Motiven ausgehend gebildet worden sind. Während sich romanisches Surcuolm an der Lage im Gelände, 'jenseits des Berges' [35], orientiert, ist die deutsche Form Neukirch offenbar auf den Bau eines neuen Gotteshauses zurückzuführen. 

 

Als "Perle am Julier" wird Bivio werbewirksam gepriesen. Namenmotivischer Ausgangspunkt der beiden nichtdeutschen Formen Bivio (it.) und Beiva (r.) ist indessen nicht eine über die Massen pittoreske Lage des Passdorfes, sondern, erkennbar an der Rückführung des Namens auf lat. bivium 'Weggabelung, Scheideweg', die sich hier verzweigenden Routen von Julier- und Septimerpass. Ein Hospiz an letzterem scheint das Motiv zu sein, das, ausgehend von lat. hospitale 'Herberge' und vielleicht beeinflusst von dt. Stall, die alte deutsche Form Stalla (urkundlich 1368 und 1400 Stallen) generiert hat. Selbige ist namentlich jenseits des Gebirgskamms im Nachbartal Avers noch in Gebrauch und im Namen Stallerberg verfestigt [36]. Benennung für den Übergang, der das Avers mit dem Oberhalbstein (Surses) verbindet. 

 

Vor allem Berge, die nicht nur eine geografische, sondern auch eine Sprachgrenze markieren, werden folgerichtig verschiedensprachig, buchstäblich von zwei Seiten her benannt. Bekanntes Beispiel ist der berühmteste Gipfel der Schweiz, das Matterhorn, das in Zermatt mundartlich auch einfach Horu 'Horn' heisst, im italienischen Breuil-Cervinia (Region Aostatal) jedoch Monte Cervinio genannt wird. Zweifellos von minderer Bekanntheit ist der zweigipflige Piz Fess, der die Val Lumnezia vom Safiental scheidet. Von den Safiern wurde er früher Schäärihoorä genannt, weil die beiden Bergspitzen aus ihrer Sicht einer geöffneten Schere glichen.[37] Anders die Bevölkerung im Lugnez: Sie empfand das Aussehen des Bergs als gespalten, romanisch fess (von romanisch fender 'spalten').

 

Im Gegensatz zum Piz Fess offenbaren die gezackten Bergriegel zwischen Safiental, Rheinwald und Oberhalbstein ihre "Mehrfachbenamsung" auch auf der Landeskarte: Pizzas d'Anarosa und Grauhörner. Die Safier kreierten mit Blick auf die vielen Zinnen, Zähne und Scharten noch einen zusätzlichen deutschen Namen: Sagihorä 'Sägehorn'.[38] Es würde den Tatbestand vorsätzlich geübter Volksetymologie erfüllen, sähe man, wohl beschlichen von latentem Hungergefühl, in den Pizzas d'Anarosa die 'Pizzen einer Anarosa'. Auch wenn sich diese "Deutung" auf eine offenbar existierende personenbezogene Namensage berufen könnte, ist richtigerweise dennoch von einer Mehrzahl von Piz 'Bergspitze' in Verbindung mit einer vorrömischen Form *rosa mit der Bedeutung 'Gletscher, Wildbach, Rinne, Erdrutsch' auszugehen.[39] 

 

Sind eingedeutschte Ortsnamen weniger robust?

"Unser Erbe an eingedeutschten Bündner Ortsnamen ist von zunehmender Verfremdung bedroht; die grössere Gefahr aber ist, dass es allmählich versinkt und zunehmend vergessen wird. Wenn hier nun – vielleicht in später Stunde – die Deutschbündner zur Erhaltung ihrer Ortsnamen als ein wertvolles Überlieferungsgut, also ein Stück ihrer eigenen Sprache, aufgerufen sind, so sei dabei des bedeutenden Sprachforschers Robert von Planta erinnert, der nicht nur Entscheidendes zur Rettung der rätoromanischen Sprache beigetragen hat, sondern in der schwierigen Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bereits die Deutschschweizer aufgefordert hat, das Erbe ihrer bodenständigen Mundarten zu ehren und zu erhalten."[40]

 

 

Dies schrieb vor etwas über 30 Jahren nicht irgendein weltfremder, schwärmerischer Spracheiferer, sondern der renommierte Volks- und Namenkundler, Ordinarius der Universität Bern und Walser-Spezialist ("Walser Volkstum") Paul Zinsli (gest. 2001). Zinsli beklagt, dass in Graubünden nach der, wie er zugesteht, mit Recht erfolgten amtlichen Verbindlichkeit der romanischen und italienischen Gemeindenamen eine heranwachsende Generation in Deutschbünden, "unterstützt" von Zuzügern aus dem Unterland, "die die kulturellen Verhältnisse des Berglands weitgehend durch Gedrucktes kennengelernt haben", beginne, einen Teil ihres eigenen Namenerbes zu vergessen. 

 

"Man spricht nun nicht mehr von Fellers, sondern von Falera, anstelle von Marmels heisst es nun Marmorera, von Schleins Tschlin, von Samaden Samedan, von Schuls Scuol, von Lenz Lantsch usw. Manch einer mag diese Lautungen gebrauchen, nicht weil er die eigenen vergessen hat, sondern weil sie für ihn gebildeter oder schöner klingen, bestenfalls weil er so den romanischen Landsleuten entgegenkommen will." Mit Recht gehe der Romane nach Cuera/Coira, spreche von Tavau (Davos), Tumein (Tamins) oder Tusaun (Thusis). Auf gleiche Weise dürfe aber der deutschsprechende Bündner "seine althergebrachten Muttersprachlautungen" brauchen und von Ems, Tiefenkastel, Sagens, Panix usw. sprechen. Zumal die meisten bündnerdeutschen Namen für rätoromanische Orte nicht neue Kanzleiformen, sondern in Jahrhunderten gewachsene Gebilde seien.

 

Ist es mit der eingangs gefeierten zähen Beständigkeit der Namen also doch nicht so weit her? Oder ist der eingedeutschte Teil doppelsprachiger Ortsnamen weniger robust als ihr romanisches Gegenstück? Nichts von alledem. Sprache ist eben Wandel, und als Wissenschaftler wird sich Zinsli sehr wohl bewusst gewesen sein, dass sprachpflegerisches Bemühen zwar lobenswert ist, der Sprachgebrauch sich letztlich aber wenig darum schert. Wie hätten wohl die Gründerväter des schweizerdeutschen Wörterbuchs (Idiotikon) auf das künstliche, Wort für Wort aus der Schriftsprache übersetzte Konstrukt reagiert, das Werbung und elektronische Medien heutzutage als Mundart verkaufen?

 

Motivation oder Gleichgültigkeit einer Sprachgemeinschaft entscheiden über Erfolg oder Nichterfolg solcher Anstrengungen – das gilt für das gefährdete Rätoromanisch ebenso wie für die in die Vergessenheit abdriftenden eingedeutschten Ortsnamen. Zinslis Bedenken kann man teilen oder eben nicht. Vorbehaltlos zustimmen kann man ihm jedoch, wenn er mit Blick auf bündnerische Namen die Inkompetenz von Radio- und Fernsehmoderatoren beklagt, "die sich über fremdländische Namen nicht genug erkundigen können", jedoch von Cazìs, Bonàduz, Walèndas (Valendas), Disèntis, Awers (Avers), Wals (Vals) etc. sprechen. Welche Wertschätzung auch immer man ihnen entgegenbringt – mindestens den Respekt der richtigen Aussprache haben Namen jedweder Art stets verdient. 

Anmerkungen

1 RNB 1 (1979, 557, 559), RNB 2 (1964, 905); Schorta, A. (1988, 58, 59).

2 Liver (2012). 

3 Einen Sprachanteil von 0.7 Prozent vermeldete die "Tagesschau" des Schweizer Fernsehens SRF am 26. September 2019 für das Räto-, genauer das Bündnerromanische.

4 Id. (1881 ff., 3,1570).

5 ONB I/3 (2008, 202).

6 Udolph/Fitzek (2005, 19).

7 Fetzer (2016, 130).

8 Stricker, H. (1980, 69).

9 Auch Goethe meint in Faust I, Szene in Marthens Garten, mit "Name" nicht den Eigennamen, sondern das Nomen, das Wort.

10 Zu einer auf der unterschiedlichen Entstehung solcher Namen basierenden Typologie siehe GHH (2019).

11 Orte mit amtlichen Doppelnamen sind in der Schweiz nicht sehr häufig. In Graubünden gehören nebst den genannten Disentis/Mustér und Domat/Ems noch Bergün/Bravuogn, Breil/Brigels, Celerina/Schlarigna, Feldis/Veulden, Lantsch/Lenz, Lenzerheide/Lai, Sils/Segl Baselgia bzw. Segl Maria, Tumegls/Tomils, Vaz/Obervaz und Waltensburg/Vuorz dazu. Vgl. GHH (2019). 

12 Bis 1943 offiziell Neukirch bei Ilanz, gehört seit 1. Januar 2016 zur Gemeinde Obersaxen Mundaun.

13 Bis 1902 offiziell Stalla, gehört seit 1. Januar 2016 zur Gemeinde Surses.

14 Vgl. Sererhard, N. (1742, 13): "Flimss [...] (auf rumansch Flem) [...] führt seinen Nammen von den schönen Wasserquellen, die im Fleken hervorquellen, […] dann Flümss heisst in Rhätischer Sprach so viel als Flumina, Wasserflüsse."

15 Schmid, Hch. (1951, bes. 26-51, mit einer Fülle von Beispielen).

16 Vgl. WeNB 8 (2017, 70, Abschn. 2.8.3 "Deutsche Wortbildungselemente an romanischen Namen"). 

17 Masüger, P. (2008, 30, 31)

18 Die Verschlusslaute t, p, k werden je nach Stellung im Wort zu entsprechenden Affrikaten oder Reibelauten z/ss, pf/ff und ck/ch verschoben.

19 Tendenz, bei vordeutschen Wörtern den Akzent wie in der eigenen Sprache auf die erste Wortsilbe zu verlegen.

20 Vgl. LSG (2005, 247, 248), r. Cuera oder Cuira, it. Coira, frz. Coire. 

21 Vgl. LSG (2005, 224). RNB 1 (1939, 126) verzeichnet r. Cazas noch als Hauptform.

22 Sonderegger (1979, 235).

23 Chur (normalschweizerdeutsch mit ch-, im Churer Dialekt, jedoch nicht allgemein bündnerisch! mit kh- ausgesprochen) Cazis (Cazis, nicht Cazis, wie oft von Kantonsfremden zu hören ist),

urkundlich 940 Chazzes, spätahd. Chaces, jünger Chatz, vgl. Sonderegger (1979, 235).

24 Sonderegger (1979, 235).

25 Vgl. Hitz, F. (2012). 

26 Vgl. LSG (2005, 669), seit 2016 Teil der Gemeinde Obersaxen Mundaun. 

27 Masüger, P. (2008, 78).

28 Masüger, P. (2008, 202, 204).

29 Vgl. RNB 2 (1964, 281).

30 LSG (2005, 888); RNB 2 (1964, 95); Schorta (1988, 144).

31 Masüger (1991, 33).

32 Sererhard, N. (1742, 196).

33 Stricker (2010, XI).

34 Vgl. GHH (2019).

35 LSG (2005, 861); Schorta, A. (1988, 137); RNB 2 (1964, 43).

36 LSG (2005, 163); Schorta, A. (1988, 67, 135); RNB (1964, 43, 172, 173).

37 Zinsli (1946, 31, 246).

38 Zinsli (1998, 137).

39 RN 2 (1964, 286).

40 Zinsli (1987, S. 21).

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Mehrsprachigkeit Graubünden